Lemgo, St.Marien, Schwalbennestorgel


  
 
Lemgo

St.Marien, luth.

"Schwalbennest-Orgel"

1595 Georg Slegel, Zwolle/Osnabrück
1612 Hans und Friedrich Scherer, Hamburg
2010 Rekonstruktion Rowan West, Altenahr, IIP/20


Die Rekonstruktion der Slegel/Scherer-Orgel im Jahre 2010 bildet einen vorläufigen Schlußpunkt unter ihre wechselvolle Geschichte.

Erstmals wurde dafür das Instrument vollkommen entkernt und einer umfangreichen Untersuchung unterzogen. Dessen Ergebnisse sind in ihrer Gesamtheit die bisher wertvollsten, die bisher für diese Orgel und ihre Geschichte ermittelt wurden. So weisen z.B. die erhaltenen Prospektpfeifen die gleichen Merkmale auf wie in Tangermünde. Ein genauer Vergleich hat nun gezeigt, dass diese durch weitere Übereinstimmungen eindeutig der Werkstatt Scherer zugeordnet werden können. Auch konnten anhand von Spuren am Gehäuse wichtige Rückschlüsse auf deren frühere Gestalt gewonnen werden.

Man muß aber feststellen, dass es auch jetzt immer noch Dinge und Umstände gibt, die zur Zeit nicht aufzuklären sind.

Die Slegel-Orgel von 1595 stand auf einer kleinen Empore, war einmanualig und hatte Flügeltüren.
Bereits
1612
bauten die Brüder Scherer sie um. Es wurde ein zusätzliches Oberwerk erbaut, neue Register wie z.B. die Prospektprinzipale angefertigt, das Gehäuse verändert und mit Aufsätzen versehen, sowie ein selbständiges Pedalwerk erbaut, das in einem hinteren, abgeschrägten Gehäuse Aufstellung fand. Diese Maßnahmen erforderten eine neue größere Empore, so wie sie sich heute zeigt.
Ziel der Rekonstruktion war genau dieser Bauzustand. Die Mensuren im Haupt- und Oberwerk stehen in der Tradition Slegel, bis auf die Änderungen durch Scherer. Die Pedalmensur ist bis auf die Gemshorenfloyt nach Scherer gebaut, in der Bauweise von Tangermünde. Restauriert wurden ebenfalls die Springladen in Hauptwerk und Pedal.
 
Die wichtigsten Punkte der Chronik sind unten aufgeführt.


 
 
I. Hauptwerk II. Oberwerk Pedal

Praestant
Quintatien
Gedackt
Octave
Hohlfloyte
Mixtur 2-4f
Scharff 3-6f
Barpfeiff
 
8
8
8
4
4
2
1
8
1)

2)


 
 
3)
Praestant
Hohlpfeiff
Nasatt
Waltpfeiff
Cimbell 3f
Trumpett
Zinke ab f0
4
8
3
2
 
8
8
2)



 
4)
5)
Bordaunen Baß
Gemshorenfloyt
Bassunen Baß
Trumpeten Baß
Cornet Baß
16
1
16
8
2
2)
6)
2)
2)
2)
8

7

5

1) = C-g2 im Prospekt, von Scherer 1612. fs0, g0, h0, f1, g1, a1, ds2-c3 neu
2) = nach Tangermünde
3) = nach M.Praetorius
4) = nach Wijk/Duurstede NL,
5) = nach Appingedam NL
6) = nach Hamburg Jacobi Gemshorn 2 OW
Restliche Register nach Mensur Slegel in Kampen und Hattem in den Niederlanden
Koppel Hauptwerk/Pedal
Tremulant
Sperrventile für Haupt- und Oberwerk
Stimmung:
mitteltönig mit Quintverkleinerung um 1/4 syntonisches Komma und 8 reinen großen Terzen
Tonhöhe a1 472 Hz bei 20 Grad Celsius, Winddruck 66 mm
Im Hauptwerk und Pedal Springladen von 1697
4 rekonstruierte Keilbälge mit mechanischer Schöpfvorrichtung
Tonumfang:
CDEFGA-c3 / CDEFGA-d1
  

1455 Früheste Erwähnung von Orgeln in St.Marien. Im 16.Jahrhundert hatte die Kirche bereits 2 Orgeln.

1584 ist ein "beklagenswerter" Zustand der Kirche (und wohl auch der Orgel) belegt

1586 Dringende Reparaturarbeiten durch Georg Slegel, die offenbar aber nicht befriedigten, da 1587 Klagen der Pastoren an Graf Simon gerichtet wurden. Immerhin sind mangels Zuschüssen in den Folgejahren Zinszahlungen für Privatdarlehen von 428 Talern überliefert, die für einen Orgelneubau plausibel erscheinen. Im gleichen Jahr sind auch Mauerarbeiten nachgewiesen, die mit dem Neubau in Verbindung stehen.

1588 und 1590 sind Aufenthalte Slegels in Lemgo belegt

1595 Fertigstellung der Orgel im Dezember. Warum sich der Bau so lange hinzog, ist nicht geklärt. Ein Grund könnte die Finanzierung sein. Weiter muß bedacht werden, dass Slegel zu der Zeit auch in Herford St.Marien auf dem Berge verpflichtet war, wie es aus dem überlieferten Vertrag hervorgeht.
Diese Orgel stand auf einer kleinen Empore, war farbig gefaßt und besaß Flügeltüren. Um Orgel und Empore rankten sich Wandmalereien, die noch erhalten sind, aber heute durch die große Empore verdeckt sind. Möglicherweise besaß die Slegel-Orgel nur einen Tonumfang von FGA-g2a2.

Wiederum ungeklärt ist der Umstand, warum bereits Anfang des 17. Jahrhunderts bis 1612 ein Umbau stattfand. Es kann vielleicht auch damit tun haben, dass das Dach oberhalb der Orgel schon damals Probleme bereitete und die Orgel in Mitleidenschaft zog. Aufgrund des im Ratsprotokoll genannten "M.Fritsen orgamacher" und der in 2009 untersuchten Prospektpfeifen geht man davon aus, dass es die Werkstatt Scherer war und mit "Fritsen" Friedrich Scherer.
 
1613 im Januar wurde die Fertigstellung des Umbaus gefeiert, bei der die heutige Gestalt der Anlage, mit der neuen Empore und dem Pedalgehäuse entstand. Ein vorliegendes dendro-chronologisches Gutachten der Tragbalken weist auf das Jahr 1612/13. Auch bei diesen Arbeiten gab es Finanzierungsprobleme, wie in einem Senatsprotokoll vom Juni 1626 über eine Rückzahlung debattiert wird.

1629 Der Organist von St.Nicolai Andreas Knoidt erstellt im Auftrag der Stadt ein Gutachten über die erst 16 Jahre alte Orgel. Es ist von "große Mangell" die Rede. Er wird beauftragt, die Orgel zu betreuen.

1632 verfasst Knoidt einen wenig schmeichelhaften Zustandsbericht. Er entfernt den "nasatt" und die Holzpfeife, die -vielleicht- auf einer eigenen Lade standen. In seinem Abschlussbericht konstatiert er den nun einwandfreien Zustand.

Wieder musste das Dach oberhalb der Orgel repariert werden.

1650 wurde ein Kostenanschlag eines Orgelbauers für eine Grundsanierung eingeholt, die aber nicht beauftragt wurde. Stattdessen wurde Andreas Knoidt weiter mit der Betreuung beauftragt.
 
In den Folgejahren gab es immer wieder Schäden infolge von Unwettern.

1661 reparierten Knoidt, der Organist Arent Floerke und Daniel Schön aus Blomberg das Instrument.

1667 standen abermals Arbeiten an. Aufgrund von Holzdatierungen erscheint es möglich, dass zu der Zeit das Oberwerk durch ein Brustwerk ersetzt und die Springladen erbaut wurden.

1732 und 1741 war Christian Klausing an der Orgel tätig, u.a. "das orgel zu renovieren".

1766 Reparatur durch Christoph Heeren, Gottsbüren

1819 Erneuerungsarbeiten durch den Orgelbauer Johann Heinrich Brinkmann, Versmold/Herford. Neue Windversorgung und Dispositionsänderungen.
In den folgenden Jahrzehnten erlahmte das kirchliche Leben an St.Marien.

1855 musste die Kirche wegen Einsturzgefahr sogar geschlossen werden

1859 wurden aus finanziellen Gründen nur notdürftige Reparaturen durch Siegwart Volland, Lemgo durchgeführt

1861 fand der erste Gottesdienst nach der Sanierung statt

Ab 1880 setzte eine Modernisierung der Kirche im Sinne des Ekletizismus ein

1887 Neubau einer Orgel auf der Westempore durch Ernst Klaßmeyer, Lemgo-Kirchheide
Das Pfeifenwerk und andere Teile der Schwalbennestorgel wurden entfernt, einige Register in die neue Orgel übernommen, der Rest zunächst zwischengelagert und offenbar später eingeschmolzen oder vernichtet.

1912 fand die Wiedereinweihung nach einer weiteren Renovierung statt. Die neue Orgel war ergänzt worden, das Gehäuse der Schwalbennestorgel abgebeizt, von Farbschichten befreit und Schnitzwerk wieder hergestellt.

Eine große Baumassnahme fand Anfang der
1930iger Jahre statt. Die Orgel wurde als Kriegerdenkmal angemeldet und Gedenktafeln mit Namen von Gefallenen des ersten Weltkriegs angebracht. Dadurch flossen vom Staat Gelder, mit denen Friedrich Klassmeier, Lemgo-Kirchheide und der Orgelsachverständige Christhard Mahrenholz, Hannover das Instrument nach damaliger Auffassung rekonstruieren konnten. Gleichzeitig wurde die Hauptorgel von 1887 überholt und einige Stimmen in die Schwalbennestorgel umgesetzt. Beide Instrumente wurden schließlich elektrisch verbunden, womit man die alte Orgel von der Hauptorgel aus spielen konnte. Die Arbeiten waren 1933 abgeschlossen.

Bis um
1947 hatte die Orgel sehr unter eindringendem Regenwasser zu leiden, was ihren Bestand auf Dauer gefährdete. Auf Initiative des langjährigen Kantors Walther Schmidt entschied man sich für eine grundlegende Renovierung und Restaurierung und beauftragte 1947 die Werkstatt Paul Ott, Göttingen zur "denkmalsgetreuen Wiederherstellung". Dabei wurde einerseits die alte Disposition wiederhergestellt. Am Brustwerk wurden Türen angebracht, da der Klang dieses Teilwerks bisher nicht zur vollen Wirkung kam. Nach Beratungen mit einer Reihe Fachleuten beschloß man außerdem den Bau eines zusätzlichen Oberwerks als 3.Manual.

1950 Abschluß des ersten Bauabschnitts. Start der Lemgoer Orgeltage.

1961 Zweiter, umfangreicher Bauabschnitt, u.a. Ergänzung bisher nicht realisierter Stimmen und gründliche Überholung. Dabei fanden auch schwächende Eingriffe in die Emporenkonstruktion statt. Das Orgelgehäuse wurde mit Stahlträgern stabilisiert. Die Orgel hatte nun 27 Register auf Haupt-, Brust-, Oberwerk und Pedal.

1997 Renovierung durch die Werkstatt Ott, Göttingen, nach der Sanierung der Kirche

Seit vielen Jahren zeigte sich die Renovierungsbedürftigkeit des Instruments. Es wurde ein Orgelbauausschuss gebildet, für den u.a. Harald Vogel gewonnen werden konnte und der die notwendigen Maßnahmen erarbeiten sollte. Im Ergebnis entschied man sich für die Rekonstruktion auf den Zustand von 1612/1629, also Rückbau auf 20 Register auf 2 Manualen in Haupt-, Oberwerk und Pedal. Das Gehäuse bietet nur für zwei Werke Platz. Durch das Hinzufügen eines 3 Manuals herrschte große Enge, durch die die Klangentfaltung behindert wurde.
Der Auftrag wurde am
16.Mai 2008 an die Firma Rowan West, Altenahr, vergeben.

Am
10.Januar 2009 fand das letzte Konzert an der Orgel statt, wo es noch einmal in seiner alten, inzwischen fast 60 Jahre alten Klangstruktur zu hören war. Unter großer Anteilnahme interessierter und engagierter Bürger konzertierten aus diesem Anlass Prof.Gerhard Weinberger aus Detmold und Prof. Dr. Helmut Fleinghaus aus Herford. Der vorgesehene Dritte in der Runde dieses Orgel-Highlights Prof. Harald Vogel, konnte wegen Erkrankung leider nicht erscheinen. Im Anschluß an das Konzert wurde den bisherigen Spenderinnen und Spendern der Pfeifenpatenschaften die Urkunden überreicht. Bis dahin wurden 328 Patenschaften im Gesamtwert von 60000 Euro erreicht.

Ab dem 19.Januar 2009 wurde mit der Entkernung begonnen. Alle Windladen und Mechanik wurden entfernt und zwischengelagert. Danach begann der beratende Sachverständige Koos von de Linde mit seinen Untersuchungen und der Dokumentation, die im September 2009 abgeschlossen wurde. Einige Ergebnisse wurden oben schon erwähnt. Das Hauptgehäuse enthält Elemente und Umbauten des 16. bis 20. Jahrhunderts.
Vieles davon geht auf Slegel zurück. Die Anordnung der Pfeifen konnte ebenfalls auf Slegel rekonstruiert werden.

Seit
Oktober 2009 hatten die Bauarbeiten an dem Instrument begonnen, die dann im Oktober 2010 abgeschlossen waren.
Das Gehäuse wurde in seiner alten Gestalt und wieder hergestellt. Das gesamte Pfeifenwerk wurde nach Vorbildern neu angefertigt.
Die Prospektpfeifen von Scherer und die Springladen wurden restauriert.
Die Stimmung der Orgel ist in Anwendung konsequenter Rekonstruktion rein mitteltönig mit 8 reinen großen Terzen.
Die Einweihung fand am
29. bzw. 31.Oktober 2010 im Rahmen der 29. Orgeltage statt.

Weitere Informationen sind in den folgenden Schriften nachzulesen (Stand 10/2010):

  • Schwalbennestorgel in St.Marien/Lemgo, Lippische Kulturlandschaften Heft 15, im Lippischen Heimatbund 2010

  • Koos van de Linde: Die Restaurierung und Rekonstruktion der Schwalbennest-Orgel in der St.Marienkirche zu Lemgo, in der Kirche als A4-Druck

In der Kirche befindet sich an der Westwand ein Videopult, an dem ebenfalls Informationen und Bauskizzen zur Orgel abgerufen werden können.